Aus der Predigt am 14. Mai 1989 in Ecône

Das Magnifikat ist das Evangelium Mariens

Erzbischof Marcel Lefebvre

Vergessen wir nicht, daß es die allerseligste Jungfrau Maria war, durch die die Apostel jenen Geist der Wahrheit und der Heiligkeit empfangen haben. Durch Maria ist der Heilige Geist auf die Apostel und die Jünger Unseres Herrn, die im Abendmahlssaal versammelt waren, herabgekommen.

Die Päpste haben das in unzweideutiger Weise bekräftigt, denn Maria war schon lange vor dem Pfingstereignis vom Heiligen Geist erfüllt. Allein die Tatsache, daß der hl. Erzengel Gabriel, als er kam, um ihr die erhabene Nachricht ihrer göttlichen Mutterschaft zu verkünden, zu ihr gesagt hat: „Ave Maria, gratia plena — Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade”, beweist, daß sie wirklich voll der Gnade ist, das heißt schon erfüllt vom Heiligen Geist. Und er fügt hinzu „Spiritus Sanctus superveniet in te — Der Heilige Geist wird auf dich herabkommen.” (Lk 1,35) Durch die Kraft des Heiligen Geistes wirst du die Mutter Jesu sein. 


Die allerseligste Jungfrau hatte ihr Pfingsten schon vor dem Tag des Pfingstereignisses, und auch sie hat gesprochen. Sie hat gesprochen, nachdem sie gerade vom Heiligen Geist empfangen hatte und so die Mutter Jesu geworden war. Sie machte sich auf, um ihre Base Elisabeth zu besuchen. Und durch sie als die Mittlerin hat auch der hl. Johannes der Täufer den Heiligen Geist empfangen und durch den hl. Johannes auch ihre Base Elisabeth. So hat die allerseligste Jungfrau Maria die Gnade des Heiligen Geistes schon über jene ausgegossen, denen sie begegnete, und dann hat sie gesprochen. Sie hat gesprochen und uns jene hinreißenden Worte ihres Magnifikat hinterlassen. 


Dieses Magnifikat ist das Evangelium Mariens. In den ersten vier Versen des Magnifikat besingt Maria, erfüllt vom Heiligen Geist, die Herrlichkeit Gottes. Gott hat sich gewürdigt, auf ihre Niedrigkeit herabzuschauen. Und weil sie demütig war, wurde sie zu erhabener Würde, wurde sie hoch erhoben: „Magnificat anima mea Dominum et exsultavit spiritus meus — Hoch preiset meine Seele den Herrn und mein Geist frohlockt (in Gott meinem Heiland).” In diesen ersten vier Versen dankt sie Gott für das, was sie vom Heiligen Geist empfangen hat und dafür, daß sie zur Mutter Jesu wurde. Und in den folgenden Versen, man kann sagen in den folgenden vier Versen, verkündet sie uns letzten Endes schon im voraus das, was Unser Herr in seiner Bergpredigt verkünden wird. Es ist fast eine kleine Zusammenfassung der Bergpredigt, besonders der Seligkeiten: selig die Demütigen, selig die Armen im Geiste, selig, die Gott fürchten, die „timentes”, die „humiles”, die „esurientes”. Sie verwendet sogar dieselben Worte wie Unser Herr. Unser Herr hat gesagt: „Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit”, selig die „esurientes”. „Esurientes” sagt auch die allerseligste Jungfrau Maria: selig, die nach der heiligen Gerechtigkeit hungern und dürsten. Aber „wehe” ruft die allerseligste Jungfrau Maria denen zu, die stolz sind, die voller Selbstüberhebung sind, die auf ihren Reichtum vertrauen, die auf ihre Macht vertrauen, die „potentes”, die „divites”, die „superbi”. Das sind jene, welche die allerseligste Jungfrau Maria warnt. „Habet acht, ihr Stolzen, habet acht, ihr, die ihr auf euren Reichtum, auf euer Geld vertraut, die ihr nicht den Geist der Armut habt, die ihr nicht den Geist der Demut habt! Gott ist nicht mit euch!” Und dann, in den beiden letzten Versen, prophezeit die allerseligste Jungfrau Maria in gewissem Sinn: „suscepit Israel puerum suum”, Gott nimmt Israel an der Hand. Was will sie damit sagen? Ist Israel nicht schon in den Händen Gottes während des ganzen Alten Testamentes? Aber es beginnt ja schon das Neue Testament, und Maria sieht schon die Gründung der Kirche, an der gerade sie beim Pfingstereignis, bei dem sie als Mittlerin den Aposteln den Heiligen Geist schenkt, auf so wirksame Weise beteiligt sein wird. Maria sieht das schon im voraus, es ist das neue Israel, es ist das Israel des Neuen Testamentes, es ist das Blut Jesu des Neuen Testamentes, „novi et aeterni testamenti”: „Hic est calix sanguinis Mei, novi et aeterni testamenti.” „Das ist das Blut des Neuen Bundes.” Maria sieht das alles, sie sieht die Gründung der Kirche. 


Aber ich würde sagen, Maria offenbart uns nicht nur auf diese Weise im Magnifikat ihr eigenes Evangelium, sie wird es auch verwirklichen. So wie sie von den Demütigen, von den Armen, von denen, die nach der Armut im Geiste leben, die in Gottesfurcht leben, spricht, wird sie das alles auch durch ihr ganzes Leben bestätigen.