„Das ist der Wille Gottes: eure Heiligung.“ Diese Worte des hl. Paulus (1 Thess 4,3) bringen es auf den Punkt. Letztlich geht es nur um dieses Eine. Alles andere ist Hilfe oder Hindernis. Der hl. Ignatius von Loyola führt das zu Beginn seiner Exerzitien aus.
Eine äußerst negative Nebenwirkung der Corona-Krise ist die Tatsache, dass dieses Eine leider allzu oft in den Hintergrund gedrängt und vernachlässigt wird.
Die Menschen sind aufgewühlt – verängstigt wegen drohender Folgen des Lockdowns und anderer Maßnahmen oder wegen der Impfung, wütend über Dinge, die sie als unrecht wahrnehmen, aber dennoch nicht ändern können. Jeder will wissen, was Sache ist, und beginnt, sich zu informieren, mit Vorliebe im Internet. Den verheerenden Mechanismus der Einengung und Selbstverstärkung, der dabei zum Tragen kommt, ist zur Genüge bekannt. Das Ergebnis ist, dass es fast ebenso viele selbsternannte Experten wie Nutzer gibt. Menschen ohne entsprechende Fachkenntnisse trauen sich plötzlich in Bereichen ein Urteil zu, in denen sogar die Fachleute (und zwar auch seriöse, auch traditionell katholisch gläubige Fachleute!) zurückhaltend sind, weil es noch nicht genügend Erkenntnisse gibt.
Abgesehen davon, dass eine gewisse Arroganz dahintersteckt, wenn jemand meint, er habe die volle Erkenntnis über das, „was wirklich läuft“, geschieht hier vor allem eines: Dutzende, wenn nicht hunderte von Stunden werden der Beschaffung und der Weiterverbreitung von Informationen und Skandalberichten gewidmet. Diese Stunden fehlen bei der Erfüllung unserer religiösen Pflichten und unserer Standespflichten. Es lohnt sich, einen Blick darauf zu werfen, wie zentral die Erfüllung der Standesplicht nach der Lehre der Kirche ist.
Die geistlichen Lehrer sind sich einig, dass die Erfüllung der Standesplicht für die Heiligung notwendig ist.
Für Abbé Tanquerey (†1932), den von Erzbischof Lefebvre hochgeschätzten geistlichen Schriftsteller, ist die Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes eines der allgemeinen Mittel zur Vollkommenheit. Der Wille Gottes wird uns kundgegeben durch die Gebote Gottes und der Kirche. Tanquerey führt weiter aus1: „Fügen wir noch hinzu, dass die Standespflichten in die Kategorie der Gebote einzureihen sind. Sie sind gleichsam besondere Vorschriften, welche in Bezug auf die einzelnen Berufe und Beschäftigungen von den Christen im Gehorsam gegen Gott zu beachten sind. Man kann sich infolgedessen nicht heiligen, ohne die Gebote zu halten und die Standespflichten zu erfüllen.“ Zu den Berufspflichten schreibt er2: „Unsere erste Pflicht ist es demnach, den Beruf, den die Göttliche Vorsehung uns gab, gleichsam als Ausdruck des göttlichen Willens bezüglich unserer Person anzunehmen und in ihm so lange zu verharren, als wir keine triftigen Gründe haben, einen anderen zu ergreifen.“
Gleichlautend sind die Standespflichten nach P. Tissot3 eine nähere Bestimmung des Willens Gottes in Hinsicht auf unsere persönliche Lage: Sie bestimmen genauer, wie man gerade in dem Stande, in dem man sich befindet, die Gebote erfüllen muss. „Was die Weltleute betrifft, so sind die Standespflichten bestimmt durch die Vorschriften des Berufes, den ein jeder hat. … Alle und jeder in ihrer Lage haben ihre eigenen sie betreffenden Verpflichtungen, die ihnen durch mehr oder minder klar ausgesprochene oder durch die Gewohnheit Gesetzeskraft habende Vorschriften vorgezeichnet sind. Diese ihrem Standesberufe entsprechenden Verpflichtungen sind für die Weltleute die nächste Richtschnur für ihre Frömmigkeit.“
Wahre Frömmigkeit ist also nur möglich, wenn die Standespflichten erfüllt werden.
Was haben wir unter der Standespflicht zu verstehen? – Man kann drei Bereiche unterscheiden:
Da der Fortschritt unserer Frömmigkeit direkt von der Erfüllung der Standespflicht abhängig ist, müssen wir vermehrt darauf achten, unsere hauptsächlichen Anstrengungen (Vorsätze) nicht auf irgendwelche Nebenschauplätze zu verlagern. Wir können nicht viele Fehler gleichzeitig bekämpfen. Beschränken wir uns daher zunächst darauf, die Standespflicht in den Mittelpunkt zu setzen. Für viele bedeutet das: sich der größten Bresche zuzuwenden, die der Feind in unserer Seele geschlagen hat. Um die Aufmerksamkeit auf die wichtigen Punkte zu lenken, scheint es nützlich zu sein, ein paar Beispiele für die Verletzung der Standespflicht anzuführen.
Die Standespflicht wird sträflich verletzt
Es ist anspruchsvoll, immer die Standespflichten zu erfüllen. Ohne geistlichen Kampf geht es nicht, aber dieser geistliche Kampf wird uns nach und nach Christus gleichförmig machen. Je gleichförmiger wir ihm sind, umso harmonischer ist unser Leben. Die hl. Elisabeth von der heiligsten Dreifaltigkeit (1880–1906) findet dazu wunderschöne Worte: „Eine Seele, die mit ihrem Ich verhandelt, sich mit ihren Empfindlichkeiten beschäftigt, ihren unnützen Gedanken nachhängt, oder irgendeiner Begierde, diese Seele zerstreut ihre Kräfte; sie ist nicht ganz in Gott geordnet; ihre Harfe tönt nicht im Gleichklang, und wenn der göttliche Meister sie berührt, so kann Er ihr keine göttliche Harmonie entlocken. Es ist noch zu viel Menschliches da; es gibt eine Disharmonie.“
Auch wenn wir hier noch einiges zu leisten haben – wir haben keinen Grund, zu verzagen, ganz im Gegenteil. Machen wir es wie die Apostel: Lassen wir uns vom Auferstandenen trösten und stärken. Nehmen wir bei demjenigen Zuflucht, der uns zuruft (Mt 11,28): „Kommet alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.“
1Abbé Ad. Tanquerey: Grundriss der aszetischen und mystischen Theologie, Paris 1931[ND
Bobingen (Sarto) 2020], Randnummer 481.
2Randnummer 601.
3Pater J. Tissot MSFS: Das innerliche Leben, Regensburg 1933 [nach einem Manuskript eines
Kartäusers], Seite 143.